Nachdem eine im Februar 2008 von Kirsch et al. (PLoS Med. 2008; 5(2): e45) publizierte Meta-Analyse zur Wirksamkeit von Antidepressiva im Vergleich zu Plazebo für viel Medieninteresse in der Fach- sowie auch in der Laienpresse gesorgt und zu zahlreichen Diskussionen geführt hatte (z.B. http://media.dgppn.de/mediadb/media/dgppn/pdf/stellungnahmen/2008/dgppn-stn08-02-fritze-zu-kirsch-wirksamkeit-antidepressiva.pdf; Broich et al., Eur Neuropsychopharmacol. 2009: 19(5):305; Möller et al., Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2008; 258(8): 451), wurde in einer kürzlich erschienenen, vergleichbaren Meta-Analyse (Fournier et al., JAMA 2010; 303(1): 47) ein ähnliches Ergebnis aufgezeigt.
So untersuchten Fournier et al. die Wirksamkeit von Antidepressiva im Vergleich zu Plazebo in Abhängigkeit vom Schweregrad der depressiven Symptomatik und fanden mit zunehmendem Schweregrad der Depression eine zunehmende Überlegenheit von Antidepressiva gegenüber Plazebo. Eingang in die Meta-Analyse fanden anhand der von den Autoren gestellten Auswahlkriterien (plazebokontrollierte Studien von mindestens 6-wöchiger Dauer bei ambulanten Patienten mit depressiver Episode oder subsyndromaler Depression (minor depression), Zugriff auf Originaldaten, kein Ausschluss von Plazebo-Respondern im Rahmen einer „Plazebo-wash-out-Phase“ sowie Vorliegen von Verlaufsbeurteilungen anhand der Hamilton Depressions-Skala (HAMD)) insgesamt nur 6 plazebokontrollierte Studien, die die Wirksamkeit von Imipramin und Paroxetin an insgesamt 718 Patienten mit Werten in der HAMD zwischen 10 und 39 Punkten untersuchten. Anhand der Differenz der HAMD-Werte über den Behandlungszeitraum zeigte sich mit zunehmendem Schweregrad der depressiven Symptomatik eine zunehmende Abgrenzbarkeit der Wirkung der beiden Antidepressiva gegenüber Plazebo. Für leichte bis mittelschwere depressive Episoden (HAMD <18 Punkte) ergab sich eine Effektstärke von 0,11 (95%-Konfidenzintervall -0,18 bis 0,41), für mittelschwere bis schwere depressive Episoden (HAMD 19-22 Punkte) eine Effektstärke von 0,17 (-0,08 bis 0,43) und für schwere depressive Episoden (HAMD >23 Punkte) eine Effektstärke von 0,47 (0,22 bis 0,71). Die entsprechende Anzahl der notwendigen Behandlungen (number needed to treat, NNT) für leichte, mittelschwere bzw. schwere depressive Episoden belief sich auf 16, 11 bzw. 4. Das vom britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) für die klinische Signifikanz einer antidepressiven Wirkung vorgeschlagene Kriterium einer Differenz zwischen Antidepressivum und Plazebo von mindestens 3 Punkten in der HAMD wurde bei HAMD-Werten >25 Punkten erreicht; die Forderung des NICE einer Effektstärke von 0,50 wurde ab einem Wert von >27 Punkten in der HAMD erfüllt.
Zusammenfassung: Auch unter Einbeziehung von Studien an Patienten mit leicht ausgeprägten depressiven Episoden, der Berücksichtigung einzig von Studien ohne „Plazebo-wash-out-Phase“ und der Verwendung von Originaldaten ergibt sich in der aktuellen Meta-Analyse von Fournier et al. ein der Meta-Analyse von Kirsch et al. entsprechendes, bereits seit langem bekanntes Ergebnis einer mit zunehmendem Schweregrad einer depressiven Symptomatik zunehmenden Abgrenzbarkeit der Wirkung von Antidepressiva gegenüber Plazebo. Dabei gingen in die Meta-Analyse von Fournier et al. aufgrund der von den Autoren gewählten Auswahlkriterien insgesamt nur 6 plazebokontrollierte Studien unter Verwendung von zwei Antidepressiva (Imipramin und Paroxetin) ein. Weitere Kritik- und Diskussionspunkte der aktuellen Meta-Analyse decken sich mit denen vorangegangener Meta-Analysen (s. oben) und umfassen u.a. die Verwendung der vom NICE (willkürlich) gewählten Kriterien für eine klinische Signifikanz und die Verwendung von Differenzwerten in der HAMD über den Behandlungszeitraum anstelle von Response- oder Remissionsraten.
Klinische Konsequenzen: Die Wahl einer geeigneten Behandlungsstrategie muss unter Berücksichtigung verschiedenster Faktoren für den Einzelfall erfolgen; eine zuverlässige Vorhersage eines individuellen Therapieerfolgs mit einem bestimmten Therapieverfahren ist dabei auch heute noch nicht möglich. Wie in Kap. 1.5 des Kompendiums dargestellt sollte im Einzelfall entsprechend der Motivation des Patienten, der Verfügbarkeit psychotherapeutischer Maßnahmen und dem Schweregrad der depressiven Episode im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans der Schwerpunkt der Behandlung auf eine antidepressive Pharmakotherapie und/oder eine psychotherapeutische Behandlung gelegt werden (siehe auch Abschnitt „Pharmako- und Psychotherapie – Bewertung“ des Kompendiums). Mit steigender Schwere der Depression ist dabei in der Regel ein Antidepressivum zunehmend unverzichtbar. Ebenso kann aber auch bei Vorliegen einer leichten depressiven Episode im Einzelfall der Nutzen einer psychopharmakologischen Intervention erheblich sein. Im Hinblick auf möglicherweise durch die in der Laienpresse geführte Diskussion um die Wirksamkeit von Antidepressiva verunsicherte Patienten sind die Vermittlung eines Krankheitsmodells und psychoedukative Elemente in der Behandlung depressiver Störungen von besonderer Bedeutung.
Francesca Regen, Berlin
Otto Benkert, Mainz