Antidepressiva – neue Studienergebnisse zu Nebenwirkungen

  • Während der ersten Behandlungswochen kann unter Antidepressiva besonders bei gehemmt-depressiven Patienten der Antrieb gesteigert sein, ohne dass die Stimmung bereits aufgehellt ist. Dies birgt ein Risiko erhöhter Suizidalität in sich. Ein Antidepressivum mit sedierenden Eigenschaften kann bei suizidalen Patienten als Monotherapie Vorteile bieten. Beim geringsten Zweifel sollten begleitend passager Benzodiazepine verordnet werden.
  • Die Frage, ob SSRI bei Erwachsenen suizidale Handlungen und Suizidideen auslösen können, wird kontrovers diskutiert. Es wird angenommen, dass die bei SSRI und auch SNRI im Vergleich zu TZA ausgeprägtere psychomotorische Unruhe sowie auch in Einzelfällen die Entstehung dranghafter suizidaler Impulse eine Rolle spielen könnten. Für Paroxetin wurde ein Warnhinweis ausgesprochen, dass das Risiko für suizidales Verhalten bei jungen Erwachsenen (18—29 Jahre) sowie bei Patienten mit suizidalem Verhalten oder Suizidideationen in der Vorgeschichte erhöht sein kann.
  • In einer kürzlich publizierten bevölkerungsbasierten Fall-Kontroll-Studie zeigte sich bei älteren Patienten unter SSRI im Vergleich zu anderen Antidepressiva ein erhöhtes Suizidrisiko während des ersten Behandlungsmonats. Die höchste Suizidrate allerdings fand sich hierbei bei älteren Menschen ohne antidepressive Behandlung.
  • Ähnlich fand sich in einer landesweiten Kohortenstudie von Patienten nach Suizidversuch unter Einnahme von Antidepressiva ein erhöhtes Risiko für Suizidversuche bei – je nach Präparat – gleichzeitiger Abnahme von Todesfällen infolge vollendeten Suizids und – im Fall von SSRI – einer verminderten Mortalität infolge kardiovaskulärer und cerebrovaskulärer Ereignisse. Dabei zeigte sich für Fluoxetin ein im Vergleich zu einer fehlenden Einnahme von Antidepressiva erniedrigtes Risiko für vollendete Suizide, während sich für Venlafaxin ein im Vergleich zu keiner Behandlung erhöhtes Suizisdrisiko ergab. (Tiihonen et al.; Arch Gen Psychiatry. 2006 Dec; 63(12):1358-67)
  • Allerdings gibt es Hinweise, dass Patienten, die Venlafaxin erhalten, häufiger als Patienten, die mit SSRI behandelt werden, schwer depressiv und suizidal sind. Für Kinder und Jugendliche im Alter von 10-19 Jahren fand sich mit Ausnahme eines erhöhen Suizidrisikos unter Paroxetin ein ähnliches Ergebnis.
  • Auf der Grundlage einer von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA auf der Basis von 372 Studien erstellten und kürzlich veröffentlichten Übersicht zum Suizidrisiko unter Antidepressva werden vermutlich Warnhinweise und Einschränkungen für die Anwendung von Antidepressiva bei Patienten unter 25 Jahren ausgesprochen werden. Hier zeigte sich eine Altersabhängigkeit des Zusammenhangs zwischen Suizidrisiko und antidepressiver Behandlung mit einem mit jüngerem Alter zunehmendem Suizidrisiko. Für unter 25-jährige fand sich dabei ein erhöhtes Suizidrisiko für die Klasse der SSRI, in noch stärkerem Maße aber für die SNRI Venlafaxin und Duloxetin, allerdings unter Einschluss der Kinder und Jugendlichen von 6—18 Jahren. In der Gruppe der 18—25 jährigen ergab sich aber kein spezifisch erhöhtes Risiko für ein einzelnes Präparat. FDA

Patienten, Angehörige und behandelnde Ärzte sollten wissen, dass zu Beginn der antidepressiven Behandlung möglicherweise ein zunehmendes oder auch neu auftretendes Risiko suizidalen Verhaltens bestehen kann. Zu Beginn einer antidepressiven Behandlung und in deren Verlauf sollten Patienten insbesondere bei Vorliegen eines hohen Risikos für suizidales Verhalten (suizidales Verhalten in der Vorgeschichte oder Suizidideationen zu Beginn der Behandlung) engmaschig überwacht werden. Auch für SSRI und SNRI ist ein sorgfältiges langfristiges Monitoring notwendig.

Die zur Zeit geführte kritische Diskussion zur Frage des Suizidrisikos unter Antidepressiva sollte dazu Anlass geben, depressive Patienten besonders zu Beginn der Therapie einem engmaschigen Monitoring zu unterziehen. Sie sollte jedoch nicht dazu führen, Antidepressiva bei entsprechender Indikation nicht zu verordnen oder deshalb auf TZA zurückzugreifen, die im Falle eines Suizidversuchs ein erhöhtes Toxizitätsrisiko aufweisen.

Der Einsatz von SSRI und SNRI im Kindes- und Jugendalter wurde in verschiedenen Risikobewertungsverfahren von Arzneimittelbehörden hinsichtlich eines möglicherweise auftretenden erhöhten Risikos für Suizidgedanken und suizidale Verhaltensweisen beurteilt. Warnhinweise und entsprechende Änderungen der Produktinformationen ergaben sich aufgrund eines im Vergleich zu Placebo häufiger beobachteten Auftretens von suizidalem Verhalten und von aggressiven, feindseligen Verhaltenweisen; vollendete Suizide fanden sich in den beurteilten Studien nicht. Unter den SSRI wurde insbesondere für Paroxetin eine Zunahme des Suizidrisikos beschrieben. Warnhinweise und Einschränkungen für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren ergaben sich in der Annahme eines Gruppeneffektes kürzlich jedoch für alle SSRI und SNRI und—unter der Annahme, dass es sich möglicherweise um einen Klasseneffekt handelt—auch für TZA.
Intoxikationen in suizidaler Absicht sind mit neueren Antidepressiva (SSRI, Mirtazapin) seltener mit vital bedrohlichen Komplikationen belastet als bei TZA oder MAO-Hemmern (nicht Moclobemid). Für Bupropion und Venlafaxin ist die Letalität bei Überdosierungen höher als unter SSRI, allerdings ist unklar, inwieweit dies durch Substanzeigenschaften oder bestimmte Patientenmerkmale (s. auch oben) bedingt ist. Intoxikationen mit Antidepressiva, insbesondere mit TZA, können zu lebensbedrohlichen Arrhythmien führen. Diagnostisch hilfreich ist eine Plasmakonzentrationsbestimmung des Antidepressivums. Bei Anzeichen einer Intoxikation ist eine stationäre, evtl. intensivmedizinische, Überwachung, indiziert.

Francesca Regen, Berlin
Ion Anghelescu, Berlin
Otto Benkert, Mainz

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